nordamerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts: Literatur als Erkenntnis

nordamerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts: Literatur als Erkenntnis
nordamerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts: Literatur als Erkenntnis
 
Die erste Blüte der amerikanischen Kultur war eine der Literatur - die »American Renaissance« zwischen den 30er- und 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts, mit Ausläufern in der Zeit nach dem Bürgerkrieg. Die zu Klassikern der Weltliteratur gewordenen zentralen Werke der Epoche sind zwar zum Teil noch der europäischen Romantik verpflichtet, gehen aber eigene Wege in ihren amerikanischen Sujets, ihrer Erkundung philosophischer und psychologischer Wahrheiten sowie ihrer Suche nach einer Ausweitung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten mit den Mitteln von Literatur und Sprache. Auch in den essayistischen und poetischen Schriften der Transzendentalisten herrschten formale Offenheit und Sprachkreativität in der Entwicklung bildlicher Analogien, doch sie standen im Dienst der Idee einer in sich widersprüchlichen, aber letztlich positiven All-Einheit. Andere sahen die Welt skeptischer. Dies gilt bereits für Charles Brockden Brown, der den europäischen Schauerroman für tiefenpsychologische Recherche verwendete. So erscheint in »Edgar Huntly« (1799) die »frontier« als das Unbewusste der Nation, der Bereich des verdrängten Anderen, der Gewaltfantasien und Todeswünsche.
 
Ist hier die »Grenze« zumindest auch eine physisch-reale, so spielen sich in Edgar Allan Poes Erzählungen und Gedichten die Grenzerfahrungen oft im Übergangsbereich zum Erfahrungsjenseitigen, zum Absoluten jenseits des Todes ab. Im Gegensatz zu Emerson ist für Poe die Einheit des Universums eine transzendente; sie kann nur erahnt werden. Wahn- und Rauschzustände oder nervliche Überspanntheit wie jene des Sprechers in seinem berühmtesten Gedicht, »Der Rabe« (1845), bilden Gegenstand oder Hintergrund vieler seiner Texte, deren Bild- und Klangmagie und deren traumhaft-groteske Mischung realistischer und fantastischer Elemente die französischen Symbolisten und die Literatur des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflussten. Trotz seines elitären Anspruchs ist Poe zum Beispiel mit seinen Detektivgeschichten jedoch auch Wegbereiter populärliterarischer Gattungen.
 
Vor dem Bürgerkrieg blieben die meisten amerikanischen Erzähler im Gattungsbereich der »romance«, des zumindest nicht ausschließlich realistischen Schreibens. Programmatisch setzte sich etwa Nathaniel Hawthorne von der zeitgenössischen, eher realistisch erzählenden Romanliteratur Englands ab, weil er für die Aufdeckung der »Wahrheit des menschlichen Herzens«, das heißt der psychischen und moralischen Motivation seiner Figuren, symbolische Überzeichnungen der Realität benötigte. Im Gegensatz zum vorherrschenden Fortschrittsoptimismus sieht er auch Amerika und die Amerikaner in der Kette kollektiver historischer Schuld und individueller Fehlbarkeit befangen. In seinen Erzählungen und Romanen wie »Der scharlachrote Buchstabe« (1850) erkundet er die Folgen menschlichen Handelns für die Beteiligten. Dabei offenbart sich freilich die Vielfalt der Bewertungsmöglichkeiten im Spannungsfeld zwischen individuellem Wunsch nach Freiheit und gesellschaftlichen Normen.
 
Noch weiter ging sein jüngerer Freund Herman Melville vor allem in dem oft als amerikanisches Jahrhundertwerk bezeichneten, Formen und Konventionen sprengenden Roman »Moby-Dick« (1851). In der Gestalt des von der Idee der Vernichtung des Weißen Wals besessenen Kapitäns Ahab geißelt er Expansionismus und Naturausbeutung, aber auch die Überschätzung menschlicher Erkenntnisfähigkeit; die Schiffsbesatzung des Romans ist Beispiel für die Relativität diverser Staats- und Gesellschaftsordnungen; der Erzähler Ishmael repräsentiert die Einsicht in die Begrenztheit von Wahrnehmung und Darstellungsmöglichkeiten sowie, angesichts der Bedeutungsoffenheit des Weißen Wals, in die Grenzen wissenschaftlicher, philosophischer und religiöser Erkenntnis - hinter der Realität lauert das Nichts.
 
Doch das »Nichts« der Erkenntnis- und Beschreibungsgrenze birgt zugleich die Chance zum sprachlich-philosophischen Neubeginn, da die Wirklichkeit nur als Konstrukt des menschlichen Bewusstseins fassbar ist - so lautet auch das Credo der in der Radikalität ihrer Suche Melville gleichzusetzenden Lyrikerin Emily Dickinson. Die herausragende Bedeutung ihres Œuvres, das in seiner metaphorischen Kühnheit und sprachbeugenden Modernität der Zeit vorauseilte, ist erst lange nach ihrem Tod (1886) erkannt worden.
 
Dichten als unabgeschlossene, tastende Selbst- und Fremdheitserkundung im Kontext von Natur, Liebe und Tod bezieht sich in ihrem Werk immerhin noch auf eine transzendente Macht, die sie jedoch zugleich in Zweifel zieht. Bei Henry James - als Romancier zwischen Realismus und Modernismus - steht nurmehr die Wahrnehmung gesellschaftlicher und psychologischer Wirklichkeit durch das Subjekt im Mittelpunkt seiner hochkomplexen und ästhetisch durchkonstruierten Romane und Erzählungen, die oft die Begegnung von Alter und Neuer Welt thematisieren. Um dem Erlebnisvorgang des individuellen Bewusstseins als letztem Garanten der Realität zu folgen, verfeinert James das Erzählen aus einer personalen Zentralperspektive in seinen späten Romanen wie »Die Gesandten« (1903) in einer Weise, die ihn zum direkten Vorläufer des Bewusstseinsromans bei James Joyce, Virginia Woolf oder William Faulkner macht, einer internationalen Literatur, zu der am Jahrhundertende nun auch die amerikanische gehört.
 
Prof. Dr. Helmbrecht Breinig
 
 
Amerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.
 Fluck, Winfried: Inszenierte Wirklichkeit. Der amerikanische Realismus 1865—1900. München 1992.
 Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur. 2 Bände. Tübingen 61983.

Universal-Lexikon. 2012.

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